Mittwoch, 17. Oktober 2018, 18:30–20:00 David Weiß: „Die Grenzen japanischer Identität – Susanoos Rolle in der politischen Mythologie Japans“

Mythen kommt eine wichtige Funktion in der Bildung und Bewahrung kollektiver Identitäten zu. Dies lässt sich besonders gut am Fall Japans zeigen, wo die Sonnengöttin Amaterasu seit dem Altertum als Ahngöttin des Tennō dessen Herrschaftsanspruch legitimierte. Neben der Sonnengöttin, die insbesondere ab der Meiji-Restauration von 1868 ins Zentrum der japanischen Staatsideologie rückte, spielte jedoch eine weitere Gottheit eine wichtige, wenn auch gänzlich konträre Rolle in japanischen Identitätsdiskursen: ihr kleiner Bruder Susanoo. In den ältesten schriftlichen Quellen Japans wird Susanoo als ein mächtiger, aber unberechenbarer Gott beschrieben, der durch sein stürmisches Temperament viel Leid verursacht und der sich – letztendlich vergeblich – gegen die Herrschaft seiner Schwester auflehnt.

Der Vortrag wird die Rezeptionsgeschichte dieser vielschichtigen mythischen Gestalt nachzeichnen und ihre Rolle in japanischen Identitätsdiskursen vom Mittelalter bis in die Moderne beleuchten. Hierbei spielt Susanoo in gewisser Hinsicht den Gegenpart zu Amaterasu. Während die Sonnengöttin beispielsweise in verschiedenen religiösen Schulen zur höchsten Gottheit erklärt oder mit dieser gleichgesetzt wurde, sahen mittelalterliche Denker in Susanoo eine fremdländische Gottheit, die Seuchen und Tod ins Land brachte. Eine positivere Funktion wurde Susanoo erst in der Meiji-Zeit (1868-1912) zugestanden. In der „Theorie vom gemeinsamen Ursprung der Japaner und Koreaner“, die herangezogen wurde, um die Kolonisierung Koreas zu legitimieren, wurde Susanoo zum Urvater des koreanischen Volkes erklärt. Einer Einverleibung des Geschwistervolkes in den japanischen Familienstaat stand somit nichts mehr im Wege.

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Susanoo dringt in die Reine Webhalle ein, wo Amaterasu und ihre Weberinnen Götterkleider herstellen. Illustration aus Chamberlain, Basil Hall (1886): Yamata no Orochi. Tokyo: Kōbunsha, S. 5.

Der Vortrag wird aufzeigen, dass Susanoo bereits in den alten Quellen eine ambivalente Position an der Grenze des mythischen Kosmos einnahm, die in späteren Zeiten den aktuellen Gegebenheiten entsprechend umgedeutet und neu interpretiert wurde. Er leistet damit einen Beitrag zur Erforschung der politischen Mythologie Japans und zu einem besseren Verständnis der Rolle von (erfundenen) Traditionen in der Konstruktion kollektiver Identität.

David Weiß hat im Februar 2017 an der Universität Tübingen erfolgreich seine Dissertation mit dem Titel „Constructing Identity through Myth: Susanowo as a Liminal Figure in Discourses on Japanese and Korean Identity“ verteidigt. Seit April 2018 ist er als Assistenzprofessor an der Rikkyo-Universität in Tokyo tätig. Seine Forschungsgebiete umfassen japanische Mythen und ihre Rezeption sowie die Geschichte japanisch-koreanischer Beziehungen, insbesondere die gegenseitige Wahrnehmung in der frühen Neuzeit.

David Weiß
David Weiß
Im Anschluss an den Vortrag: Vorstellung und Verkauf der neuesten OAG-Publikationen bei einem Glas Sekt.