Vorträge
Mittwoch, 5. Februar 2025, 18:30–20:00 Andreas Neuenkirchen: „Völlig losgelöst – wie Karaoke die Welt eroberte“
In den späten 1960ern kam ein musikbegeisterter Ingenieur in Tokyo zum ersten Mal auf die Idee, ein Mikrofon an ein 8-Spur-Tonbandgerät mit Verstärker anzuschließen, um sich selbst beim Singen populärer Schnulzen zu Instrumental-Playback zuzuhören. Das Ergebnis gefiel ihm so gut, dass er die Maschine sofort mit einem Münzeinwurf ausstattete, um andere davon profitieren zu lassen, und sich selbst natürlich auch. Es war die Geburtsstunde von Karaoke. Oder eine der Geburtsstunden von Karaoke. Es lag etwas in der Luft in den späten 60ern und frühen 70ern, und Musik war ein nicht geringer Teil davon. An mindestens vier weiteren Orten Japans wurden unabhängig voneinander ähnliche Systeme entwickelt, die zu lokalen Nightlife-Phänomenen wurden.
Diese frühen Apparate waren nicht bei allen wohlgelitten. Sie verärgerten vor allem tingelnde Live-Musiker, die zuvor für die musikalische Begleitung zuständig waren, wenn sentimentalen Kneipenbesuchern zu vorgerückter Stunde nach Singen zumute war. Einige der Geräte hatten größeren Erfolg als Dekorationen in Love Hotels, weil ihre Lichter so schön blinkten. Andere schafften es schließlich, vor allem männliche Nachtschwärmer anzulocken, als attraktive Bar-Hostessen angestellt wurden, um die Handhabung zu erklären.
Bald technisch perfektioniert und massenproduziert von großen Elektronikfirmen, wurde Karaoke in den hedonistischen 1980ern des japanischen Wirtschaftsbooms zu einem unvermeidbaren Freizeitspaß, der auch erste Fühler in Richtung internationaler Expansion ausstreckte, zunächst in Großstädten mit hohem japanischen Bevölkerungsanteil. In den 1990ern wurde Karaoke schließlich auch international ein Massenphänomen. Doch während man im westlichen Ausland in immer größerer Runde sang (speziell in Deutschland etablierte sich das ‚Rudelsingen‘), wurden die Gruppen im Entstehungsland kleiner. Dort verschwand die Karaoke-Maschine zusehends aus dem allzu öffentlichen Raum. Dafür eröffneten riesige Karaoke-Center mit Privaträumen, in denen man in intimeren Konstellationen oder sogar ganz alleine singen konnte.
In einer Mischung aus Vortrag und Lesung erläutert der Buchautor Andreas Neuenkirchen, warum Karaoke nur in Japan entstehen konnte, wie es international adaptiert wurde, welche gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnisse es befriedigt und welchen Platz es in heute in Kunst und Kultur einnimmt.
Andreas Neuenkirchen lebt seit 2016 als freier Autor in Tokyo. Er ist der Verfasser mehrerer Bücher mit Japan-Bezug, darunter der Bestseller Gebrauchsanweisung für Tokio und Japan (Piper) und Codename: Sempo (Europa Verlag), die erste deutschsprachige Biografie Chiune Sugiharas. Über japanische Pop- und Alltagskultur schrieb er unter anderem für Merian, The Japan Times und Tokyo Weekender. Sein Buch Völlig losgelöst – wie Karaoke die Welt eroberte erscheint im Februar 2025 im Leykam Verlag.
Zeit: 18.30-20.00 Uhr (Japan), 10.30-12.00 Uhr (MESZ)
Zoom-Link: https://us02web.zoom.us/j/89563696205?pwd=ZkWJ1wbNbQtTitSkml1S3jaTraK7TF.1
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