Mittwoch, 24. April 2024, 18:30–20:00 Prof. Dr. Folker Reichert: „Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter! Kaiser Wilhelm II., Hermann Knackfuß und die ‚Gelbe Gefahr‘“

Der Vortrag befasst sich mit einem ebenso berühmten wie berüchtigten Bild. Kein anderes Bildzeugnis bringt die rassistische Grundstimmung des imperialistischen Zeitalters so deutlich zum Ausdruck. Das anderswo erfundene Schlagwort von der „Gelben Gefahr“ wurde erst dadurch legitimiert. Es richtete sich gegen die aufstrebende Großmacht Japan und gleichzeitig, aber nachrangig gegen die einstige kulturelle Vormacht China. Beide Völker, Japaner und Chinesen, wurden wie seinerzeit üblich der „mongolischen Rasse“ zugerechnet.

Reichert Völker Europas Abb. 1

Wie das Bild entstand, lässt sich detailliert rekonstruieren. Der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. lieferte den ersten Entwurf und behielt die Aufsicht über das Verfahren, seinem grundsätzlichen Anspruch auf das „künstlerische Oberkommando“ (Walther Rathenau) entsprechend. Der Bildtitel: „Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter“ stammt von ihm. Der Kasseler Akademieprofessor Hermann Knackfuß setzte die Vorgaben des Kaisers mit photographischer Genauigkeit um. Das fertige, von Wilhelm unterzeichnete und als Heliogravüre vervielfältigte Bild wurde professionell beworben, in der nationalen und internationalen Presse besprochen und seit November 1895 weltweit verbreitet. Auch die zahlreichen Parodien und Karikaturen bezeugen, wie viel Eindruck es auf die nationale und internationale Öffentlichkeit machte.

Das Bild lässt sich in allen seinen Bestandteilen entschlüsseln. Deren Zusammenspiel ergab ein allegorisches Weltbild, in dem Ostasien und Europa als unversöhnliche Gegner erschienen. Weil die Vorstellung von einer „Gelben Gefahr“ weit über Wilhelm II. hinaus virulent blieb und in immer neuen Variationen Europäer und Nordamerikaner umtreibt, besteht auch weiterhin die Möglichkeit, auf die Zeichnung zu rekurrieren, gegebenenfalls mit charakteristischen Änderungen an ihrem Inhalt. Sie bleibt in der kollektiven Erinnerung, in der speziellen Forschung wie im allgemeinen Geschichtswissen, bis in die Gegenwart präsent.

Prof. Dr. Folker Reichert studierte Geschichte, Germanistik und Latein in Würzburg und Heidelberg. 1982 wurde er mit einer Arbeit über ein Thema der österreichischen Verfas­sungsgeschichte im Mittelalter in Heidelberg promoviert. 1982/83 war er als Lektor des DAAD in Shanghai (VR China) tätig. 1990 erfolgte die Habilitation in Heidelberg. Seine Habilitationsschrift über Begegnungen mit China. Die Entdeckung Ostasiens im Mittelalter (1992) wurde mit dem Preis des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands ausgezeichnet. 1994 wurde Reichert auf den Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte an der Universität Stuttgart berufen, den er bis 2012 innehatte. Gastprofessuren führten ihn nach Shanghai, Yokohama und Bangkok. Er ist ordentliches Mitglied der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg und der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters bei der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 2011/12 war er Fellow am Alfried-Krupp-Wissenschaftskolleg in Greifswald. Reichert forscht und publiziert zur Geschichte des Reisens, der Entdeckungen und der Kartographie im Mittelalter sowie zur Geschichte der Geschichtsforschung im 20. Jahrhundert.

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