Mittwoch, 16. Dezember 2020, 18:30–20:00 Marie-Theres Strauss: „Der Rote Kanon – Umgang der frühen Volksrepublik China mit dem eigenen Kulturgut am Beispiel des Romans Traum der Roten Kammer“

Der Roman Traum der Roten Kammer (chin. 紅樓夢 / 红楼梦, Hóng Lóu Mèng) aus dem späten 18. Jahrhundert gilt als ein fester Bestandteil der chinesischen literarischen Tradition. Vielfach verfilmt und auf andere Genres übertragen erfreut er sich bis heute in der Chinesisch sprachigen Welt einer ungebrochenen Popularität – in der westlich-anglophonen Welt etwa vergleichbar mit der Beliebtheit der Romane Jane Austens. Dennoch wäre es falsch, von einer ungebrochenen Rezeptionsgeschichte des Romans auszugehen, gerade angesichts der turbulenten Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert.

Mit der Machtübernahme der Kommunistischen Partei Chinas in den 50er Jahren wurden die meisten Vorstellungen von Politik, Geschichte und Kultur von Grund auf in Frage gestellt. Die neue Gesellschaft Chinas begab sich auf eine grundsätzliche Identitätssuche. Alte Autoritäten wurden gestürzt und neue mussten gefunden werden – dies galt nicht nur für Politiker und Personen des öffentlichen Lebens, sondern auch für das gesamte Kulturgut des Landes. So wurde eine Kampagne zur Neuinterpretation des Traums der Roten Kammer 1954 auch Ausgangspunkt für eine Generalüberholung der bisherigen Lese- und Interpretationspraxis des gesamten literarischen Kanons.

Die Kampagne von 1954 diente einerseits der öffentlichen Kritik an einem bis dato ausgewiesenen Spezialisten für den Roman, warf aber andererseits auch die (mitunter berechtigte) grundsätzlichere Frage auf, ob es denn genüge, das Lesen und die Wirkungsmacht alter Texte nur ausgebildeten Historikern und Philologen zu überlassen. Steckten in einem solchen Werk nicht auch Anklänge, anhand derer man die Genese der politischen Umbrüche, in denen man sich in der jungen VR China befand, bereits erkennen konnte?

Zuweilen schoss man damals – noch weit vor der Kulturrevolution 1966 – in der literarischen Neuinterpretation und der Kritik an „überholtem Wissen“ bereits deutlich über das Ziel hinaus, aber einige Ansichten und Lesarten aus den 50ern setzten sich durch. Wer heutzutage in einer Buchhandlung in China Bücher zum Traum der Roten Kammer sucht, wird nolens volens auch auf Spuren der 50er Jahre stoßen. Sprachlich wie interpretatorisch sind diese in das kulturelle Selbstverständnis des heutigen Chinas eingeflossen und haben dazu beigetragen, die Frage der kulturellen Identität, des „Wer sind wir?“ zu beantworten. Die damit zusammenhängenden Ereignisse und Prozesse ein wenig nachzuvollziehen (und eventuell in Frage zu stellen) ist Ziel dieses Vortrags.

Marie-Theres Strauss, geboren 1981, studierte Sinologie in Berlin, Venedig und Peking. In ihrer Dissertation über Literaturgeschichtsschreibung im China der 1950er Jahre beschäftigte sie sich u.a. mit dem Traum der Roten Kammer und dem Schicksal derjenigen, die ihn beruflich oder als Studenten interpretieren mussten. Den Roman liebt sie bis heute und findet, dass er ein bisschen ist wie ein ewiges Abenteuer – egal, wie oft man ihn liest, man wird jedes Mal etwas Neues und Spannendes entdecken. Nach Abschluss ihrer Promotion trat sie in den Auswärtigen Dienst ein, wo sie bis heute tätig ist. Seit 2017 lebt sie mit ihrer Familie in Tokyo.

Mitschnitt des Vortrags