Mittwoch, 26. Juni 2019, 18:30–20:00 Lee M. Roberts: „Feuervögel und verbrannte Kinder: Ost und West in Yoko Tawadas fiktivem Reisebericht Wo Europa anfängt (1991)“

Auf einer Reise nach Moskau erwartet eine junge Japanerin in Yoko Tawadas Reisebericht Wo Europa anfängt, dass sie nicht nur Asien verlassen hat, sondern auch irgendwann in Europa ankommen wird. Andererseits lässt sich die Trennungslinie zwischen Ost und West nicht so leicht finden, denn die Leute, denen sie begegnet, erzählen ähnliche Märchen von Feuervögeln und verbrannten Kindern und sehen zum großen Teil auch ähnlich aus. Selbst das Spielzeug, das als typisch Russisch gilt, scheint seinen Ursprung in Japan zu haben. Wo liegt also der Unterschied zwischen Asien und Europa?

In seinem Vortrag behandelt Lee Roberts Tawadas teils fiktiven teils authentischen Bericht von einer Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Europa. Weltweit bekannt für ihre Romane, Erzählungen und Gedichte in deutscher und japanischer Sprache gilt Tawada vielen Germanisten heutzutage geradezu als literarischer Star. Mit einem Stil, der an Franz Kafka erinnert, schreibt Tawada oft über Schwierigkeiten, in die man in einem fremden Land allzu leicht geraten kann. Nicht selten sind die Probleme sprachlicher Art und so wie die Abenteuer des berühmten Till Eulenspiegel. Wie Till drückt Tawada oft eine gesellschaftliche Kritik aus, die man leicht übersehen kann, wenn man nicht konzentriert liest. Wo Europa anfängt suggeriert zum Beispiel nicht nur, dass Russland und Japan ähnlich sind, sondern auch, dass das weite Sibirien, das zwischen beiden Ländern liegt, mit seinen tungusischen Völkern der Mandschurei vielleicht sogar den Japanern vertrauter vorkommen sollte als den Russen, die das Gebiet auf europäische Art und Weise (bloß) kolonisiert haben.

Lee M. Roberts ist Associate Professor für deutsche Sprache und Literatur (Germanistik) an der Purdue University Fort Wayne, Indiana, USA. Mit Joanne Miyang Cho ist er Herausgeber der Palgrave Series in Asian German Studies. 2015-2018 war er Associate Direktor vom (I)PFW Institute for Holocaust and Genocide Studies.

Lee M. Roberts
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