Mittwoch, 16. November 2016, 18:30–20:00 Dr. Inga Streb: „Mekura goyomi 盲暦 – der japanische „Blindenkalender“ als Sonderform des vormodernen japanischen Lunisolarkalenders“

Im Nordosten Japans hatte man im 18. Jahrhundert in der damaligen Provinz Mutsu einen Kalender entwickelt, der im ganzen Land einmalig war: den „Blindenkalender“, auf Japanisch mekura goyomi. Es handelt sich hier allerdings nicht um einen Kalender in einer Form der Blindenschrift, denn „blind“ (mekura) ist in diesem Zusammenhang nicht in der Bedeutung von „nicht sehen können“ zu verstehen, sondern im übertragenen Sinn als „kulturell blind“, oder ganz konkret als „nicht lesen können“. Es ist ein Bilderkalender.

Tōhoku galt in seinen abgelegen Landesteilen lange Zeit als das „Armenhaus“ Japans, denn das Klima war rau, der Boden karg und die Ernteerträge bedauernswert niedrig. Während der großen Hungersnöte, die das ganze Land im 18. Jahrhundert immer wieder heimgesucht hatten, waren hier die meisten Todesopfer zu beklagen gewesen. Die ländliche Bevölkerung in Tōhoku hatte schon immer weit entfernt vom kulturellen Glanz der Hauptstadt gelebt; jetzt schienen auch die letzten Möglichkeiten zu versiegen, die Menschen wenigstens noch zu ernähren.

Von Regierungsseite schickte man Berater und Hilfsangebote ‒ im engen Bereich der Dorfgemeinschaften versuchte man es mit diesen Kalendern. Sie sollten den Bauern, die weder des Lesens noch des Schreibens kundig waren, ein Hilfsmittel in die Hand geben, ihre Arbeit auf dem Feld nach den erprobten Kalenderdaten zu organisieren. Dies ist die traditionelle Begründung für die Entstehung des „Blindenkalenders“. Die neuere Forschung bemüht sich um eine wissenschaftliche Klärung der Entstehungsgeschichte.

Die Blindenkalender erschienen in zwei unterschiedlichen Versionen, jeweils nach ihrem Erscheinungsort Tayama, bzw. Morioka benannt: Der zeitlich frühere Tayama goyomi hat eine sehr reduzierte, gelegentlich geradezu kryptische Bildsprache. Der spätere Morioka goyomi zeigt dagegen relativ einfache, narrative Bildergeschichten. Die wenigen noch erhaltenen Exemplare der originalen Kalenderdrucke, insbesondere der Tayama goyomi, sind heute in Museen und Bibliotheken als wichtige Kulturschätze aufbewahrt.

In der japanischen Öffentlichkeit sind die Mekura goyomi jedoch auch heute noch fast unbekannt – wie auch im Ausland, obwohl der Japanforscher Philipp Franz von Siebold bereits 1832 in seiner mehrbändigen Beschreibung Japans, dem Nippon, einen Tayama Kalender unter der Bezeichnung „Blindenkalender“ veröffentlicht hatte.
Im Vortrag soll versucht werden, mit Hilfe von Abbildungen einen Tayama goyomi zu erschließen und ihn wieder „lesbar“ zu machen. Darüber hinaus soll ein kurzer Vergleich mit dem im Nippon abgebildeten Kalender einen Blick auf die Rezeptionsgeschichte ermöglichen.

Tayama Kalender (Tayama goyomi), Kyōwa 2 (1802), 24.5 x 101cm Aus: http://www.ndl.go.jp/koyomi/e/ National Diet Library, The Japanese Calendar
Tayama Kalender (Tayama goyomi), Kyōwa 2 (1802), 24.5 x 101cm
Aus: http://www.ndl.go.jp/koyomi/e/ National Diet Library, The Japanese Calendar

Dr. Inga Streb, Studium der Japanologie, Sinologie und der japanischen Volkskunde. Promotion 1976 an der Uhr-Universität Bochum bei Prof. Dr. Bruno Lewin. Von 1973 bis 1976 und von 1979 bis 1996 Aufenthalt in Japan. Während dieser Zeit u.a. Deutsch-Unterricht an verschiedenen Universitäten, allgemeine und wissenschaftliche Publikationen zu japanspezifischenThemen (letzte Buch-Veröffentlichung zusammen mit der Koautorin Mitsue de LaTrobe Zwischen Kimono und Computer ‒ Japans Frauen machen Karriere, München 1992). In den beiden letzten Jahren Teilnahme am kōdō-Unterricht der Shinō-Schule in Tokyo.
In den Jahren zwischen den beiden Japan-Aufenthalten Bearbeitung von Alt-Japonica in der Bayerischen Staatsbibliothek München. Arbeiten und Vorträge u.a. über die japanische Duftzeremonie (kōdō), die einheimischen Piraten (Murakami suigun) in der japanischen Inlandsee und Studien zum japanischen sogenannten „Blindenkalender“.