Vorträge
Mittwoch, 10. Oktober 2012, 18:29–19:59 Dr. Lokowandt: „Der japanische Rechtsstaat“
Ein japanischer Rechtsstaat existiert mindestens seit dem 7./8. Jahrhundert, doch gibt es Unterschiede zwischen unserer Auffassung von Rechtsstaat und der japanischen Variante.
Ich nenne zuerst eine Besonderheit der europäischen Rechtsordnung, denn sie ist die Ausnahme, nicht das japanische Recht. Die Besonderheit ist, dass sie auf dem Christentum aufbaut, das jedem Menschen in seinem Gewissen sagt, was in einer bestimmten Lage zu tun sei.
Im Folgenden werde ich drei wesentliche Regeln für die japanische Rechtsstaatlichkeit nennen. Erstens gibt es keinen Individualismus in Japan, also keine Lehre, dass das Individuum über der Gesellschaft steht. Zweitens herrscht ein naturgegebener Drang, das Recht in den Kategorien der natürlichen Ordnung zu sehen, wobei das Recht meistens in Kategorien der Moral erklärt wird. Und drittens sieht man das Recht häufig als eine Sonderform der Harmonie, auf Japanisch wa.
Wenn das Individuum nicht über der Gesellschaft steht, wenn es also keine von Oben kommende Lehre gibt, muss der Mensch sich automatisch an der Seite orientieren, und er setzt das Kollektiv als Ursprung der Legalität. Dass das tiefgreifende Differenzen gibt, liegt auf der Hand. Die Moral als rechtliche Norm misszuverstehen, schafft eine ungeheure Dichte des Rechts. Und drittens bedeutet Recht automatisch etwas anderes als Harmonie.
Was dieses alles in der Realität bedeutet, in welchen Formen das japanische von unserem Recht abweicht, das ist meines Erachtens der Reiz an der Beschäftigung mit dem japanischen Rechtssystem.
Dr. Ernst Lokowandt, Studium von Japanologie, Vergleichender Religionswissenschaft und Staatsrecht/Staatslehre in Hamburg und Bonn, sowie von moderner japanischer Geschichte und Shintō in Tokyo; Promotion in Bonn. Wissenschaftlicher Referent der OAG Tokyo, anschließend Professor an der Tōyō Universität in Tokyo. Veröffentlichungen zum Shintō, japanischen Kaisertum und deutsch-japanischen Verfassungsvergleich. Hauptarbeitsgebiet: Struktur und ideologische Grundlagen des japanischen Staats der Moderne.