Vorträge
Mittwoch, 6. April 2022, 18:30–20:00 Andreas Riessland: „Ideologie zum Tee – ein kritischer Blick in Okakuras Bestseller The Book of Tea“
Im Jahr 1906 erschien in den Buchhandlungen der alten und neuen Welt ein schmaler Band mit dem Titel The Book of Tea, eine Abhandlung zur japanischen Teekultur, verfasst von Okakura Kakuzō, Kunsttheoretiker und Berater am Museum of Fine Arts in Boston. Zum Zeitpunkt des Erscheinens hatte wohl niemand, den Autor eingeschlossen, eine Ahnung davon, dass sich dieses unscheinbare Büchlein zu einem Klassiker der Japanliteratur entwickeln sollte. In zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach neu aufgelegt, hat es bis heute, knappe 120 Jahre nach seinem ersten Erscheinen, einen festen Platz in den Bücherregalen des tee- und japanaffinen Lesepublikums weltweit. Und auch wenn inzwischen neue Abhandlungen zur japanischen Teekultur existieren, die ihr Thema weitaus detaillierter (und seien wir ehrlich, auch wesentlich fundierter) angehen als Okakuras Buch, so bleibt The Book of Tea dennoch für viele Interessierte das diskursbestimmende Werk zum Thema Tee in Japan.
Und dies sollte nachdenklich machen, denn beim Lesen von Okakuras Werk fällt auf, dass eine von Japans großen Teetraditionen, sencha (bzw. senchadō), in Okakuras Buch praktisch keine Erwähnung findet. Dies ist umso auffälliger angesichts der Tatsache, dass sencha und seine formalisierte Variante senchadō zu Okakuras Lebzeiten eine Verbreitung in Japans Gesellschaft genoss, die ihm keinesfalls entgangen sein konnte.
An diesem Punkt will dieser Vortrag ansetzen. Zum einen versteht er sich als Exkurs zur Entstehung und Verbreitung der sencha-Teekultur in Japan. Er will die Hauptmerkmale dieser Teekultur herausarbeiten und damit aufzeigen, wo diese Art des ritualisierten Teekonsums ihren Platz in der japanischen Gesellschaft hatte (bzw. noch hat). Zum anderen will er der Frage nachgehen, was Okakura dazu bewog, sencha und senchadō derart auffällig aus seinem Buch vom Tee auszusparen – eine Frage, die viel mit der eigenwilligen Persönlichkeit des Autors Okakura und mit seiner von persönlichen Sympathien und Abneigungen gelenkten Weltsicht zu tun hat.
Andreas Riessland, Japanologe und Anthropologe, ist Associate Professor an der Deutschen Abteilung der Nanzan-Universität in Nagoya. Wissenschaftlich setzt er sich mit dem ideologischen Zusammenspiel von Traditionsdenken, Ästhetik und Nationalismus auseinander und mit deren Manifestationen in Japans Gegenwartgesellschaft, von Produktwerbung, Naturwahrnehmung und der Politisierung des Ästhetikbegriffs bis hin zur Symbolsprache der bōsōzoku.