Vorträge
Mittwoch, 20. März 2019, 18:30–20:00 Vortrag von Stefan Keppler-Tasaki: „Wie Goethe Japaner wurde. Eine Geschichte internationaler Kontakte und nationaler Zwecke“
1818 schrieb Goethe an Herzog Carl August: „Japan ist überall wo man es zu erschaffen weiß.“ Diese Sentenz bezog sich auf die Herstellung von Gartenbedingungen, bei denen japanische Pflanzen auch in Weimar gedeihen würden. Nahezu alles, was Europäer der Goethe-Zeit über Japan zu glauben wussten, verlor im Laufe des japanischen Nationsbildungsprozesses des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erheblich an Wiedererkennungswert. In diesem Prozess bewahrheitete sich Goethes Bemerkung auch insofern, als Japan gerade in Japan selbst zuallererst erschaffen werden musste. Der Baustoff zu dieser Schöpfung wurde aber nicht zuletzt wiederum von Goethe genommen, d.h. von seinem vermeintlich vorbildlichen Leben und Werk. Japanische Intellektuelle von Mori Ōgai bis Tezuka Osamu bezogen sich intensiv auf Goethe, um so etwas wie eine japanische Identität zu bestimmen – zur nationalen Selbstbehauptung ebenso wie für eine grundlegende Kritik an Staat und Gesellschaft.
Noch ein 2005 gegründetes Hochglanzmagazin, das sich dem erneuerten Selbstbewusstsein japanischer Geschäftsmänner nach der Bubble-Economy verschrieben hat, trägt ausgerechnet den Namen Goethes und demonstriert eine gewisse Sachkunde bei der Verwendung des deutschen oder vielmehr nicht deutschen Dichters als Ikone des Erfolgs, des Stils und der inneren Balance, mithin als Idealbild eines Japaners. Es ist die Perspektive dieses Vortrags, wie internationale Kulturkontakte gerade auch zu Zwecken nationaler Identität verwendet werden können.
Stefan Keppler-Tasaki, geboren 1973 in Wertheim am Main, ist Associate Professor für moderne deutsche Literatur an der Faculty of Letters und Graduate School for Humanities der Universität Tokyo. Er bekleidete von 2002 bis 2008 eine Assistenz am Lehrstuhl von Peter-André Alt und anschließend bis 2012 eine Juniorprofessur für neuere deutsche Literatur an der FU Berlin. Seit 2014 ist er Einstein Visiting Fellow der FU und im Herbst 2019 Thomas Mann Fellow des Thomas Mann House in Los Angeles. Seine Forschung beschäftigt sich mit Fragen individueller und kollektiver Identität im Zeitraum von der Goethe-Zeit bis zur Klassischen Moderne.