Mittwoch, 12. April 2023, 18:30–20:00 Prof. Michael Burtscher: „Koeber und Kokoro: Ein Besuch bei Sōsekis Sensei“

Raphael von Koeber (1848-1923), dessen Todestag sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährt, ist außerhalb Japans weitgehend unbekannt. In Japan aber ist er als „Kēberu sensei“ weiterhin vielen ein Begriff. Dies liegt nicht zuletzt an einer Kurzgeschichte Natsume Sōsekis (1867-1916) von 1911, die diesen Titel trägt.

„Ginge man an die Literaturwissenschaftliche Fakultät der Universität um zu fragen, wer hier der Professor mit der vortrefflichsten Persönlichkeit sei,“ heißt es dort, „so würden wohl neunzig von hundert Studenten, noch bevor sie einen der zahlreichen japanischen Professoren erwähnen, umgehend mit ‚von Koeber‘ antworten.“ Zu diesen Studenten zählte die ganze Generation japanischer Denker, deren Namen bis heute die Idee und das Bild einer eigenständigen „japanischen Philosophie“ und einer dezidiert „anderen“ japanischen Kultur bestimmen: Namen wie Nishida Kitarō, Kuki Shūzō und Watsuji Tetsurō zum Beispiel.

Dabei war Koeber nicht zuletzt dafür bekannt, dass er während der letztendlich dreißig Jahre (geplant waren lediglich drei), die er in Japan verbrachte, nicht nur davon Abstand nahm, die Sprache seines Gastlandes zu erlernen, sondern dieses auch nie bereiste. Der Kontrast zu Lafcadio Hearn (1850-1904), dem er manchmal gegenüber gestellt wird, könnte kaum größer sein. Hearn (der in Japan als Koizumi Yakumo firmierte) wurde mit Büchern wie Kokoro: Einblicke in das Innenleben Japans weltbekannt. Aber es war Koeber, der mit seiner ganz der Philosophie, Dichtung und Musik europäischer und nicht zuletzt deutscher Provenienz verschriebenen – und auf diese Weise einer um sich greifenden „Moderne“ entrückten – Lebensweise seinen japanischen Bewunderern und Schülern immer wieder das Wort kokoro entlockte, das auch Soseki als Titel für seinen psychologischen Schlüsselroman von 1914 wählen sollte.

„Keberu-sensei“, Kurzgeschichte von Natsume Soseki, übersetzt von S. Yuasa

Professor Koebers Abschied, Artikel in der Asahi Shinbun

Michael Burtscher hat in München Neuere und Neueste Geschichte sowie in Harvard History and East Asian Languages (mit Schwerpunkt Japan) studiert und ist seit 2022 Senior Assistant Professor für politische Ideengeschichte Japans an der Meiji Universität. Zuvor Lehraufträge an zahlreichen japanischen Universitäten (u.a. Hokkaidō Universität, Sophia Universität, Gakushuin Universität, Rikkyō Universität und Waseda Universität) und Tätigkeit als wissenschaftlicher Übersetzer im Bereich Human- und Sozialwissenschaften (vornehmlich aus dem Japanischen ins Englische, von 2007 bis 2012 auch als Project Associate Professor und Managing Editor for English-Language Monographs an der Tokyo Universität).