Mittwoch, 9. März 2022, 18:30–20:00 Isabel Fassbender: „Ninkatsu (Ziel: Schwangerschaft) als Aufruf zum Selbstmanagement: Postfeminismus und Biomedikalisierung im kontemporären Japan“

Seit 2011 ist ninkatsu (妊活, kurz für 妊娠 / Schwangerschaft und 活動 / Aktivität) in Japan zu einem allgemein bekannten Schlagwort in der Medienlandschaft und im Alltag geworden. In diesem Diskurs werden junge Frauen aufgefordert, sich Wissen rund um Schwangerschaft und Geburt anzueignen und ihren Lebensplan mit ständigem Blick auf das sich schließende reproduktive Zeitfenster zu gestalten. Oft wird der Begriff in Bezug auf Fruchtbarkeitsbehandlungen verwendet, und auch politische Entscheidungsträger haben sich im Rahmen der Bekämpfung der geringen Geburtenrate einige Punkte von dieser Narrative abgeguckt.

Nicht selten wird ninkatsu mit reproduktiver Selbstbestimmung und weiblicher Autonomie verknüpft; den wenigsten ist jedoch bekannt, dass ninkatsu ursprünglich die (sehr erfolgreiche) Marketingstrategie eines pharmazeutischen Unternehmens ist, um Fruchtbarkeitsbehandlungen in Japan einer breiteren Gruppe zugänglich zu machen. Während der populäre Diskurs um ninkatsu zum einen Fruchtbarkeitsbehandlungen entstigmatisiert und wichtige Diskussionen eröffnet hat, wurden damit zum anderen biomedizinische Technologien als unumgänglicher Bestandteil der Familienplanung etabliert.

Ninkatsu und verknüpfte Diskurse rund um Fertilität, zum Beispiel um alternde Eizellen und degenerierende Spermienqualität, bieten des Weiteren in vielerlei Hinsicht Einsicht in normative Ideologien und Vorstellungen von Reproduktion, Familie und Geschlechterrollen. Technologie und Populärwissenschaft dienen oft dazu, diese Normen – im Namen von Autonomie und Selbstbestimmung – zu reproduzieren und legitimieren.
Der neoliberale Aufruf zu umfassendem Selbstmanagement und reproduktiver Lebensplanung ist in erster Linie an Frauen gerichtet, jedoch werden auch Männer in den letzten Jahren mehr und mehr an die Notwendigkeit erinnert, ihre Fertilität zu observieren und konservieren, um ihrer Rolle in der Fortpflanzung „adäquat“ nachkommen zu können. Hierbei zeigen sich jedoch entscheidende Unterschiede in der Adressierung von Männern und Frauen.

Dieser Vortrag befasst sich mit breit gefächerten Themenbereichen wie Familiennormen, Fruchtbarkeitsbehandlungen oder Adoption, die im Rahmen von ninkatsu relevant sind, und analysiert neoliberale Politiken der Reproduktion im kontemporären Japan mit zusätzlichem Blick auf historische Aspekte aus einer kritischen Perspektive.

Dr. Isabel Fassbender schloss 2011 das Bachelor-Studium der Japanologie in Zürich ab. Im Anschluss studierte sie ab 2012 im Master- und Doktoratsprogramm der Tokyo University of Foreign Studies (International and Area Studies) und wurde 2020 promoviert. Sie lebt in Kyoto und ist dort an der Dōshisha Frauenuniversität (Department of International Studies) als Assistenzprofessorin tätig. Sie befasst sich mit Politiken der Reproduktion, Gender-Studies und Familiensoziologie. Ihre neueste Publikation ist Active Pursuit of Pregnancy: Neoliberalism, Postfeminism and the Politics of Reproduction in Contemporary Japan, 2021, BRILL.

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