Samstag, 24. April 2010, 15:00–17:00 Werner Schaumann: „Was japanische Kinder lesen“

… oder vorgelesen bekommen. Von den ersten Bilderbüchern für den Säugling bis zu Büchern, die man ein Leben lang mit immer neuen Augen betrachten kann, möchte ich Ihnen einige Meisterwerke der japanischen Bilderbuchliteratur vorstellen. Ihre Kinder begegnen diesen Büchern vielleicht im Kindergarten oder der japanischen Schule, die japanischen Freunde sprechen darüber, und auch Sie sollten sich einmal diesen Genuss gönnen. Die Auswahl der Bücher verdankt sich keinen wissenschaftlichen Kriterien, allein meinen Vorlieben. Es geht um die Lust am Schauen und Lesen/Hören. Natürlich werde ich auch ein paar schwierige Wörter benutzen, um den erwachsenen Zuhörern meine Gelehrsamkeit zu demonstrieren, aber Kinder (vom Säuglings- bis ins hohe Alter) sind besonders willkommen. Es wird genug zum Anschauen und Anfassen für sie geben, und vielleicht auch etwas zum Naschen.

Die Baby-Bilderbücher haben mit den Texten, die der Lyriker Tanikawa Shuntarō zu abstrakten, d.h. konkreten Bildern schrieb, eine neue Qualität erreicht. Popāpe popipappu (das Buch liegt vor mir, damit ich den Titel korrekt transkribiere) sollte sich keine Kristeva-Leserin entgehen lassen. Wer aber das Buch seinem Mann zeigt, darf sich nicht bei mir beschweren, wenn dieser vergnügt brabbelnd in die präödipale Phase regrediert.

Die Bücher über das Mäusepaar Guri und Gura, die von zwei japanischen Schwestern geschrieben und illustriert werden, sind zwar schon in viele Sprachen übersetzt, aber noch nicht ins Deutsche. Dafür fand ich gerade den deutschen Blog eines Japaners in Bayern, der seine Frau mit Guradono anspricht. Ein paar feministische Anmerkungen zu diesem modernen Klassiker werde ich mir auch als Mann gestatten.
image Eine der ältesten japanischen Erzählungen, die vor vielen Jahren sogar bei Reclam als „Die Jungfrau vom geschmeidigen Bambus“ erschienen ist, ist auch als Bilderbuch Kaguyahime populär. Besonders schön sind die Illustrationen von Akino Fuku, die der traditionellen japanischen Malerei neue Wege gewiesen hat.

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Einst schrieb ein buddhistischer Abt chinesische Gedichte, deren Übersetzung heute sogar dem erwachsenen Japaner vorenthalten wird. Doch die witzigen Geschichten von seinen Erlebnissen als Novize kennt jedes Kind hier. Über Ikkyū-san können Sie sich im Internet informieren, aber ein oder zwei Bilderbücher, die seine Schlagfertigkeit zeigen, werde ich mitbringen.

Den Pfirsichjungen Momotarō, der mit seinen Freunden Hund, Affe und Fasan die Dämonen besiegt, werden wir in einer zweisprachigen (japanisch/englisch) Ausgabe der klassischen Kōdansha-Bilderbuch-Serie betrachten und mit einem Bilderheft aus der frühen Meiji-Zeit vergleichen. Diese Gelegenheit für ein paar ideologiekritischen Bemerkungen zum Wieder- und Neu-Erzählen von Märchen lasse ich mir nicht entgehen.

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Oder kennen Sie die Geschichte vom Faden der Spinne? Akutagawa Ryūnosuke schrieb dieses Meisterwerk für Kinder, inspiriert von dem buddhistischen Gleichnis eines deutschamerikanischen Philosophen, der eine christliche Parabel neu erzählte, die einmal eine chinesische Legende war.

Für Mädchen meist nicht so interessant sind die Fahrzeug-Bilderbücher, ein Genre, das in japanischen Buchhandlungen ganze Regale füllt. Als Freund des Bahnhofs Tokyo, der gern im Bahnhofshotel übernachtet und in der Bar dort getrunken hat, bringe ich Ihnen Mein Abenteuer im Bahnhof Tokyo mit und werde es postmodern interpretieren.

Anno Mitsumasa war nicht nur der Zeichenlehrer meiner Frau in der Grundschule, als zweiter Japaner bekam er den Andersen-Preis für seine Bilderbücher, und sogar Deutschland und meine alte Universität kommen in seinen Werken vor. Sein Bilderbuch ohne Worte können Sie auch auf Englisch als Anno’s Journey lesen. Ich werde gerne erklären, warum das eine problematische Übersetzung für Tabi no ehon ist.

Es gäbe noch viele schöne Bücher, aber Ihre Geduld zuzuhören und meine Muskelkraft zum Schleppen hat eine Grenze. Wenn ich Ihnen Lust gemacht habe, in die Bilderbuchabteilung der Buchhandlungen hier zu gehen, auch wenn Sie kein Japanisch verstehen, werde ich zufrieden sein.

Werner Schaumann