Mittwoch, 30. September 2015, 18:30–20:00 Dr. Christoph Schmitz: „Kleine Zeichen – Große Wirkung. System und Ideologie der chinesichen Zeichen (Kanji)“

Lange gab es keine Schlüssel, um das System der chinesischen Zeichen (Kanji) zu verstehen. Die Arbeit und die Lexika von Shirakawa Shizuka (1910-2006) u.a. haben dies gründlich geändert. Der Vortragende hatte das Glück, ihn noch kennenlernen und interviewen zu können und gibt sein Wissen teilweise als persönliches Vermächtnis weiter. Der Vortrag versucht den deutschen (deutschsprachigen) Interessierten zu etwas eigener Urteilskraft bezüglich der chinesischen Zeichen zu verhelfen. Es kommt dabei auch darauf an, die archaischen Anfänge richtig zu verstehen, was mittlerweile weitgehend zweifelsfrei möglich geworden ist. Der Ahnendienst z.B. ist schön anschaulich in mehreren chinesischen Zeichen dargestellt. Es ist quasi unmöglich, die nun gefundenen Zeichenerklärungen wieder zu vergessen, weil sie nicht mehr bloße mnemonische „Eselsbrücken“ sind, sondern auf dem Boden der historischen Tatsachen stehen.

Shirakawa hat den Vortragenden auf die durch bestimmte Zeichen bis heute vermittelte „Überlegenes Land im Zentrum–Ideologie“ (Chūka shisō) hingewiesen, die von Japan aus China übernommen wurde. Nach dieser Ideologie (im Widerspruch z.B. zur buddhistischen Lehre) sind außerhalb dieser Sphäre liegende Länder, Bewohner und deren Sprachen (Menzius: „Gekrächze“) minderwertig. Jahrhundertelang selbst Opfer solcher Herabwürdigung von Seiten Chinas, lassen die Japaner sie nun andere fühlen.

Dieser Vortrag soll den Deutschen (Deutschsprachigen) auch Mut machen, sich wie u.a. die Briten (bereits Macartney 1793 und klar formuliert z.B. im Vertrag von Tianjin 1858) gegen einschüchternde, ausländerfeindliche und im ökonomischen Wettbewerb benachteiligende Namen, hier gegen das japanische Zeichen „doku“ für unser Land und unsere Sprache zu wenden. Der Bestienklassifikator darin wird in der Regel bestenfalls für untergeordnete Tributarnationen verwendet und ist der unverhohlene Ausdruck eines Überlegenheitsgefühls. In den chinesischen Zeichen zeigt sich diese Ideologie deutlich seit ca. 2500 Jahren, d.h. seit der Zeit der kriegführenden Staaten.

Die englischsprachige Welt hat sich im krassen Unterschied zur deutschsprachigen früh Respekt auf der Namensebene in Ostasien verschafft und auch dadurch das Englische (jap. eigo wörtlich: „prächtige Sprache,“ „Sprache des Mutes“ oder „Heldensprache“) zur Welt- und Wissenschaftssprache gemacht.
Objektives Beweismaterial entzieht hier der Ahnungslosigkeit und folgenschweren Fehleinschätzungen den Boden. Wir wollen uns aber durch politisch-ideologische Agenden und Drohvokabular nicht die Freude an den vielen interessanten Seiten der chinesischen Zeichen und den Kunstgenuss verderben lassen.

Hier ein kleiner Vorgeschmack auf das, was Sie erwartet:
Japanresidenten werden in der Regel mit dem beginnenden Herbst nach dem heißen Sommer Erleichterung und Dankbarkeit für den Jahreszeitenwechsel empfinden.
Die Kalligrafie zeigt die Form des Vorläufers des chinesischen Zeichens für Herbst, wie es im ältesten tlw. über drei Jahrtausende alten Material, den Schildkrötenbauchpanzer- und Tierknocheninschriften (manchmal auch: Orakelknocheninschriften) eingeritzt ist. Ganz zu Anfang war die Zeichenbedeutung allerdings noch Erntezeit. Manchmal wurde das Orakel auch zum Ausgang der Ernte befragt, ob es regnen wird oder ob für die Ernte geopfert werden soll. Aber darauf allein wollte man sich dann wohl doch nicht verlassen. Der untere Teil zeigt Feuer, der obere ein schädliches Insekt. Zur Erntezeit im Herbst bekämpfte man Schädlinge wie Heuschrecken, Insektenlarven etc. gezielt mit Feuer. Es gab auch Riten, die die Heuschrecken besänftigen sollten, um der Erntevernichtung entgegenzuwirken.

Die Vorbedingung für die Entstehung der Schrift war eine gefestigte politische Macht. Ohne Königtum keine Schrift. Der König ließ bei Fragen politischer Relevanz nötigenfalls solange weiterdivinieren, bis das von den Klerikern befragte Orakel das gewünschte Ergebnis brachte. Das ist der Anfang der nun seit über dreitausend Jahren bestehenden engen Verbindung von Herrschaft und Schrift in Ostasien.

Das heute in Ostasien verwendete chinesische Zeichen für Herbst ist 秋. Der linke Teil zeigt Getreide bzw. Getreidegrannen 禾 und der rechte Feuer 火. Der Zeichenteil mit dem Insekt, gegen das sich das Feuer ursprünglich richtet, ist heute also weggekürzt.
Der Vortrag legt Wert darauf, heute täglich gebrauchte chinesische Zeichen im Zusammenhang ihres Systems vorzustellen, so dass ein nachhaltiger Lerneffekt sofort eintreten kann.

Dr. Christoph Schmitz, Geschichts-, Philosophie- und Japanstudium an den Universitäten Konstanz (Prüfung in klassischer chinesischer Philosophie) und Düsseldorf (Doktorarbeit über die japanische Geistesgeschichtsschreibung) und an der Sophia Universität in Tokyo. Forschung an der Fakultät für Jura und Politik der Universität Tokyo. Seine Shirakawa-Zeichenlexikonübersetzung mit Kommentierung wird als The Keys To The Chinese Characters erscheinen. Er erforscht desweiteren in Ostasien prakizierte traditionelle Schicksalsanalysetechniken und leitet die Gruppe „Stoppt doku“. (Kontakt zur Erwerbung von Originalkalligraphien: )