Mittwoch, 7. Mai 2014, 18:30–20:00 Vortrag von Prof. Dr. Werner Schaumann: „Momotaro – Eine alte Geschichte weitererzählen“

Falls Ihnen der Titel und die folgenden Zeilen bekannt erscheinen: Diese Veranstaltung ist eine erweiterte Fassung meines Festvortrages in Kyoto anlässlich der Konstituierung der OAG-Zweiggruppe Kansai.

Die Geschichte von Momotaro, dem starken Jungen aus dem Pfirsich, entstand wohl in der Muromachi-Zeit, erste Aufzeichnungen gab es in der Edo-Zeit, und noch heute ist dies das bekannteste und beliebteste Märchen Japans. Aber schon in den ersten Jahren der Meiji-Zeit wies der Aufklärer (und Gründer der Keio Universität) Fukuzawa Yukichi seine Kinder darauf hin, dass Momotaro nicht unbedingt ein Vorbild ist. Teufeln ihre Schätze zu nehmen, bloß weil sie Teufel sind, lässt sich nicht rechtfertigen.

Dennoch wurde und wird diese Geschichte – mit einem Begriff Louis Althussers – als ideologischer Staatsapparat immer wieder weitererzählt, um im Medienmix von Text und Bild, Postern und Puppen aus kleinen Kindern gute Japaner zu machen. Diese Bindung Momotaros an den japanischen Nationalismus ist ein Gemeinplatz der Literaturwissenschaft, doch wurde die frühe Meiji-Zeit dabei eher übersehen.

Im Jahr Meiji 14 (1881), am Ende der Geschichte der edo-zeitlichen Bilderbücher für Kinder (akahon) schuf der Ukiyoe-Künstler Utagawa Kunimasa IV (Kunisada III, 1848-1920) für den japanischen Gebrauch ein kleines (handtellergroßes) Meisterwerk: Momotarō onigashima-den (Momotaros Fahrt zur Teufelsinsel). 1885 publizierte der findige Geschäftsmann Hasegawa Takejirō (1853-1938) sein erstes Krepppapier-Buch (chirimen-bon) als Souvenir für reiche Ausländer: Momotaro (Japanese Fairy Tale Series, Nr. 1; englischer Text und japanische Holzschnitte; eine deutsche Übersetzung erstellte das OAG-Mitglied und Professor an der Kaiserlichen Universität Tokyo Karl Florenz.
(Beide Werke können im Internet eingesehen werden: z.B. unter Link 1 und Link 2).

Eine genaue Betrachtung dieser beiden Wort-Bild-Texte und der Vergleich mit früheren und späteren Weitererzählungen zeigt, wie fein die Ideologien auf das jeweilige Publikum abgestimmt sind: Wie stellt man es mit unscheinbaren – bewussten und unbewussten – Änderungen auf der einen Seite an, dass kleine Jungen sich als patriotische Kämpfer für die japanische Nation fühlen, wie veranlasst man andererseits Ausländer, Japan und die Japaner als gleichwertig anzuerkennen? Den ästhetischen Genuss, den im schönen Japan auch die ideologische Interpellation bereitet, können wir nachvollziehen, ohne die Gefahren zu übersehen.

Prof. Dr. Werner Schaumann, Taishō-Universität, Mitglied des Vorstandes