Vorträge
Mittwoch, 18. September 2024, 18:30–20:00 Wolfgang Thiele: „Unbeugsame Stimmen: Die Rolle taiwanischer Dissidenten in Japans Menschenrechtsgeschichte“
In diesem Vortrag werde ich die bedeutende, jedoch weitgehend übersehene Rolle der taiwanischen Unabhängigkeitsbewegung im Bezug auf die Entwicklung der Menschenrechte in Japan und Ostasien in den 1960er und 1970er Jahren beleuchten.
Zunächst gebe ich einen Überblick über die Entwicklung der taiwanischen Unabhängigkeitsbewegung von 1945 bis heute, wobei der Fokus auf der Exilbewegung in Japan liegt. Anschließend zeige ich, wie politische Ereignisse in Ostasien, wie das Zerwürfnis zwischen der Sowjetunion und China, der Militärputsch vom 16. Mai 1961 in Südkorea und die japanisch-amerikanischen Verhandlungen über die Rückgabe Okinawas, das Leben taiwanischer Dissidenten in Japan beeinflussten und zu einer verschärften Unterdrückung der Bewegung führten.
Ein zentraler Punkt des Vortrags werden die Zwangsabschiebungen von Chen Yuxi und Liu Wenqing nach Taiwan sein, die vom Bezirksgericht Tokyo als grob fahrlässig bzw. vorsätzlich rechtswidrig bewertet wurden. Ich werde aufzeigen, wie diese Abschiebungen eine transnationale Protestbewegung auslösten und zur Gründung der japanischen Abteilung von Amnesty International führten – der ersten permanenten NGO in Japan, die sich für die Rechte von Ausländern unabhängig von deren politischer Loyalität oder Ethnizität einsetzte.

Darüber hinaus zeige ich, dass sich diese Abschiebungen unmittelbar auf das 1969 vom Bezirksgericht Tokyo ergangene Urteil im Fall von Yun Sugil gegen dessen Abschiebung nach Südkorea auswirkten. Obwohl dieses Urteil später vom Obersten Gerichtshof aufgehoben wurde, markierte es einen historischen Moment, da es erstmals einem Ausländer das Recht zusprach, zum Schutz vor politischer Verfolgung nicht in sein Heimatland abgeschoben zu werden.

Davon ausgehend möchte ich auch das weniger bekannte Urteil von 1971 im Fall der taiwanischen Unabhängigkeitsaktivisten Zhang Rongkui und Lin Qixu vorstellen. Dieses ging noch über das Urteil im Fall Yun Sugil hinaus, da es das Justizministerium dazu zwang, zum Schutz vor politischer Verfolgung beiden Aufenthaltsrechtstitel zu erteilen. Damit führte es de facto politisches Asyl als legitimen Aufenthaltsrechtsgrund ein, wobei dagegen keine Rechtsmittel (Berufung o. ä.) eingesetzt wurden.
Das Thema ist relevant für die moderne Geschichte Japans und Taiwans, doch es beleuchtet auch Aspekte der Geschichte sozialer Bewegungen, der internationalen Beziehungen in Ostasien sowie der Global-, Migrations-, Menschenrechts- und Rechtsgeschichte Japans und Taiwans. Ich hoffe, mit meiner Forschung auf die Rolle der taiwanischen Unabhängigkeitsbewegung in der japanischen Nachkriegsgeschichte und den oben aufgeführten Feldern sowohl der breiten Öffentlichkeit als auch der Historiographie aufmerksam zu machen, damit diese vermehrt diskutiert wird.
Wolfgang Thiele ist Doktorand der Geschichtswissenschaften an der Freien Universität Berlin und derzeit als Stipendiat am Deutschen Institut für Japanstudien. Er studierte Regionalwissenschaften (B.A.) mit Schwerpunkt Japanologie und Sinologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Globalgeschichte (M.A.) in einem Kooperationsprogramm zwischen Humboldt-Universität und Freier Universität. Zudem studierte er u. a. auch an der Universität Tokyo, der National Taiwan University und der Chinese Culture University (Taiwan).