Mittwoch, 28. September 2022, 18:30–20:00 Hans Henrik Fricke: „Über die Rhetorik der Dachtraufen“

Dachtraufen sind tief verwurzelt in der japanischen Architekturgeschichte. Während ein Gebäude in Europa primär vor winterlicher Kälte schützt, ist japanische Architektur für das heiße, feuchte Sommerklima konzipiert: Horizontale Kontinuität statt „Abgrenzung“. Raum wird nicht durch Mauern definiert, sondern als räumliche Abfolge; strukturiert durch Stützen, die das Dach mit tief auskragenden Traufen tragen. Das ästhetische und technische Vermächtnis dieser Tradition setzt sich bis in die Gegenwart fort und trägt dazu bei, dass zeitgenössische japanische Architektur weltweit eine einzigartige Stellung einnimmt.

In der Vergangenheit waren Dachtraufen unerlässlich, um die Holzkonstruktionen vor Niederschlag zu schützen. Funktionale Überlegungen überwogen. Doch im Laufe der Zeit wurden repräsentative Motive mit der Konstruktion der Dachtraufe verbunden. Es wurden Techniken entwickelt, die Traufe immer weiter auskragen zu lassen. Die ausdrucksstarke, von Monumentalität geprägte kumimono-Konstruktion des Tempels Tōdai-ji in Nara (1199) steht dabei im Gegensatz zu den feinen keshōdaruki der Dachüberhänge, die von den Zimmerleuten in der Kamakura-Zeit (1185-1333) entwickelt wurden. Dieser Kontrast markiert den Beginn einer Rhetorik der Dachtraufen.

Kamakura
Keshōdaruki: Engaku-ji in Kamakura,
Quelle: K. Zwerger, Das Holz und seine Verbindungen
Nara
Kumimono: Tōdai-ji in Nara,
Quelle: K. Zwerger, Das Holz und seine Verbindungen
Ueno
Maekawa Kunio: Ueno Bunka Kaikan,
Quelle: Shinkenchiku 1961.06

Der zeitgenössische japanische Kontext ist Nährboden für eine Weiterentwicklung solch einer Rhetorik: Industrialisierung, Modernisierung und Globalisierung haben die Gesellschaft und damit auch die Baukunst stark beeinflusst. Neue Materialien erfordern neue Konstruktionstechniken. Neue Architekturprogramme erfordern neue Typologien. Und mit der rasanten Urbanisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts erweitert sich die Architektur zudem um den Bereich des Urbanen. Die Transformation der Gesellschaft zog auch eine Transformation des architektonischen Ausdrucks mit sich.

Der Vortrag konzentriert sich auf die Dachtraufe im zeitgenössischen Kontext. Traufen zeitgenössischer öffentlicher Bauten haben ähnliche Eigenschaften wie die traditioneller. Sie unterscheiden sich jedoch in der Konstruktion, erschließen neue Potenziale im urbanen Raum oder verschieben den Bezugspunkt der Architektur weit über das Grundstück hinaus. Es ist der Versuch, ein traditionelles japanische Architekturelement jenseits von funktionalen Überlegungen oder repräsentativen Motiven zu denken. Stattdessen erschließt sich die Rhetorik der Dachtraufe in der zeitgenössischen japanischen Architektur aus drei verschiedenen Überlegungen architektonischer Komposition: Konstruktion, Raum und Nähen.

tange
Tange Kenzō: Bürogebäude der Präfektur Kagawa (1959). Foto: Hans Henrik Fricke

Hans Henrik Fricke, 1990 geboren im hessischen Darmstadt, lebt Fricke seit acht Jahren in Tokyo. Er studierte Architektur an den Kunstakademien in Stuttgart und Tokyo (Tōkyō Geijutsu Daigaku) sowie an der Technischen Universität Tokyo (Tōkyō Kōgyō Daigaku), wo er in diesem Jahr bei Professor Tsukamoto Yoshiharu seine Dissertation mit dem englischen Titel Rhetoric on Eaves in contemporary Japanese architecture ablegte. In seiner Forschung beschäftigt sich Fricke mit öffentlichen Bauten zeitgenössischer japanischer Architektur. Architekturkomposition dient dabei als Grundlage und Methode, Diskurse zu entwickeln und zu etablieren.

Video-Mitschnitt