Mittwoch, 7. Mai 2008, 18:30–20:00 Annika Hansen: Auswirkungen des 5-Artikel-Eids – 140 Jahre Rezeptions- und Wirkungsgeschichte eines vielfältig inspirierenden Dokuments

„Wir begrüßen das neue Jahr und erinnern uns, daß der Meiji Tenno zu Beginn der Meiji-Ära als Grundlage unserer Landespolitik den 5-Artikel-Eid verkündete. […] Die Artikel sind klar in ihrer Aussagekraft und hoch in ihren Idealen. Wir wollen diesen Eid erneuern und das Land wieder auf eigene Füße stellen. Wir müssen die Grundsätze nochmals bestätigen, die in den Artikeln enthalten sind, und entschlossen die Beseitigung fehlgeleiteter Bräuche der Vergangenheit durchführen. Wir werden in enger Verbindung mit den Wünschen des Volkes ein neues Japan aufbauen, indem wir — Amtspersonen genauso wie das Volk — durch und durch friedfertig sind, ein hohes kulturelles Niveau erlangen, und den Lebensstandard der Bevölkerung erhöhen.“
(Aus der Neujahrsbotschaft des Showa Tenno vom 1. Januar 1946)

Fast 80 Jahre nachdem der Meiji Tenno 1868 den 5-Artikel-Eid geleistet hatte, wurden die fünf Artikel nach Ende des Zweiten Weltkrieges in der Neujahrsbotschaft des Showa Tenno am 1. Januar 1946 wieder aufgegriffen und zum Aufbau eines neuen Japans herangezogen.
Wie wurde und wird der 5-Artikel-Eid interpretiert? Was hat er bewirkt?
Während auf der einen Seite von dem Eid, dessen „offizieller Zweck […] war, die Einheit von Kult und Regierung, die in uralten Zeiten existiert hatte, wiederherzustellen“ (Donald Keene: „Emperor of Japan“), gesagt wird, er „füllt eine Position ähnlich der Magna Charta England oder der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten“ (Nitobe Inazō: „Lectures on Japan“), wird andererseits behauptet, „dass die scheinbar liberalen Ideen, die in den Artikeln ausgedrückt sind, die eigentliche Absicht des Eides verschleierten, die Unterstützung der Landesfürsten vor dem Angriff auf die Burg Edo zu gewinnen, der für den Folgetag geplant war.“ (Keene)
Nichtsdestoweniger hat der Eid offenbar die Menschen seiner Zeit und danach beeinflusst und interessanterweise beziehen sich sowohl Regierungsvertreter (z.B. in der „Schrift über die Regierungsform“ vom 11. Juni 1868) als auch Anhänger oppositioneller Volksbewegungen (z.B. die „Bewegung für Freiheit und Bürgerrechte“) auf den Eid. Neben den konkreten Absichten, die hinter seiner Erschaffung standen, und seinen unmittelbaren historischen Wirkungen, hat der Eid eine zeitlose Bedeutung entwickelt, die wahrscheinlich weit über das hinausgeht, was die Schöpfer des Dokumentes beabsichtigt hatten.
Vielleicht können Sie am Ende des Vortrags die Begeisterung des Kido Takayoshi nachvollziehen, der bei der Erinnerung an den von ihm Jahre zuvor mitverfassten, aber bereits in Vergessenheit geratenen 5-Artikel-Eid aus Freude über die von ihm ursprünglich gar nicht angestrebte Interpretierbarkeit desselben als moderne Staatsverfassung in die Hände geklatscht und gesagt haben soll: „Natürlich! Das war da (alles) drin! […] Es ist ein phantastisches Dokument; wir können niemals zulassen, daß dieser Geist verlorengeht.“ (Marius B. Jansen: „The Making of Modern Japan“)

Diese imposante Kalligraphie des gesamten Textes des 5-Artikel-Eides in altertümlichen Schriftzeichen wurde im August 2000 (Heisei 12) von Satō Kazushi angefertigt und füllt eine ganze Wand im Foyer des Empfangssaals im Gebäude für liturgische Tänze und Musik im Innern des Meiji Jingu. Sie zeugt davon, daß sich auch heutzutage noch Menschen von diesem Text inspirieren lassen. (Foto: Meiji Jingū)

Annika Hansen (geboren 1975 in Krefeld) wuchs in Ahrensburg bei Hamburg auf, studierte Medizin und Informatik an den Universitäten Hamburg, Lübeck und Tokyo. Nach Erhalt des Doktortitels für Forschung über die Biochemie von Ribozymen verbrachte sie vier Jahre als postdoc in funktioneller Genomik an der Universität London, GB, bevor sie 2007 Gastwissenschaftlerin am Meiji Jingū wurde. Ihre Verbindung zum Meiji Jingū besteht seit 2001, als sie als Auslandsstudentin an der Universität Tokyo der dortigen Aikido-Abteilung beitrat, die im Meiji Jingū trainiert. Zur Zeit ist sie Mitglied des Forschungsinstitutes des Schreins, lernt bzw. erlebt dort Shintō und arbeitet an interdisziplinären Forschungsprojekten.