Mittwoch, 12. November 2008, 18:30–20:00 Karin Yamaguchi: „Leibniz und China, Teil II“

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Im Jahre 1689 lernt G.W. Leibniz anlässlich eines Aufenthaltes in Rom den Jesuitenpater Claudio Filippo Grimaldi kennen.
Grimaldi, Chinamissionar und Leiter des Astronomischen Amtes am kaiserlichen Hof in Peking, hat Aufregendes zu berichten: China ist im Begriff, den ersten zwischenstaatlichen Vertrag mit einem europäischen Staat, den Friedensvertrag von Nertschinsk, abzuschließen.
Vermittler in dieser Angelegenheit zwischen dem chinesischen und dem russischen Reich sind die Jesuiten am chinesischen Hof.
Die Nachricht von einem Friedensvertrag lässt nicht nur die europäischen Händler aufhorchen, die hoffen, den Handel mit China, der auf dem Seeweg in einem bescheidenen Ausmaß bereits realisiert ist, zu beleben, sondern auch Leibniz, der weitaus mehr als nur den Austausch von Gütern fördern möchte.
Es ist ein Kultur- und Technologietransfer „zum Wohle der gesamten Menschheit“, der ihm vorschwebt, und Russland soll dabei eine Mittlerfunktion zukommen.
Die Zivilisation des gesamten eurasischen Kontinentes soll der erste Schritt auf dem Weg zur Vervollkommnung der gesamten Menschheit sein.
Worin Leibniz die „höchste technische Zivilisation“ in Europa verwirklicht sieht, erfahren wir nicht, wohl aber, auf welchen Gebieten er die Chinesen für überlegen hält und was er von ihnen lernen möchte.
In einem Fragenkatalog an Grimaldi, die er diesem vor seiner Rückreise nach China übermittelt, nennt er u.a. die Pyrotechnik, die Medizin, die Chirurgie, die Astronomie, die Kalenderkunde, aber auch die Papier- und Porzellanherstellung, die Seidenraupenzucht, die Textilproduktion, sowie die Nutzung von Wind- und Wasserkraft.
Sowohl Leibniz selbst in seiner Funktion als Bergwerksdirektor im Harz als auch viele seiner Zeitgenossen, die etwa dem Geheimnis der Porzellanherstellung auf die Spur kommen, der Medizin zum Fortschritt verhelfen oder Handel treiben wollen, suchen Antworten auf diese und andere Fragen, und sie suchen sie in China.
Einige von diesen Fragen werden von den jesuitischen Chinamissionaren selbst oder durch deren Vermittlung sogar beantwortet.
China hat allein durch sein Vorbild den technologischen Fortschritt im Europa des 18. Jahrhunderts enorm beflügelt.
Zwischen Europa und China aber liegt ein großes Reich, das der Segnungen der Zivilisation noch nicht teilhaftig geworden ist: Russland. Sein Herrscher ist Zar Peter I,. genannt „Peter der Große“.
Auf ihn setzt Leibniz große Hoffnungen, und nach langen Jahren des Wartens gelingt es ihm im Jahre 1711 sogar, dem Zaren persönlich Vorschläge zur „Zivilisation“ Russlands zu unterbreiten.
Worin bestanden diese Vorschläge? Wie realistisch waren sie? Welche Anstren-gungen unternahm man, um sie zu verwirklichen?
Wie wirkte sich das Vorbild Chinas konkret im Europa des 18. Jahrhunderts aus? Wo lassen sich auch heute noch Einflüsse in Europa nachweisen?
Und schließlich: Wie reiste man zu Leibniz’ Zeiten nach China?

Karin Yamaguchi
Studium der Philosophie und Japanologie in München und Bochum.
Forschungsinteressen: Philosophie der Neuzeit, speziell der Frühaufklärung (Leibniz, Wolff) und interkulturelle Philosophie.

Leibniz und China, Tei I: siehe unten

Leibniz und China, Teil I

Im April 1697 erschien auf dem europäischen Buchmarkt das Werk „Novissima Sinica“, zu deutsch: „Neuestes aus China“. Der dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend lange Untertitel versprach dem Leser:

„Darin wird vieles bislang Unbekanntes dargetan, ein nach Europa übermittelter Bericht über die erstmals staatlich zugelassene Verbreitung des Christentums, weiter über die Wertschätzung der europäischen Wissenschaften, über die Sitten des Volkes und besonders dessen gegenwärtigen Herrschers, und schließlich über den Krieg der Chinesen mit den Russen und ihrem Friedensschluss.“

Herausgeber und Verfasser des Vorwortes dieses Buchs war der Universalgelehrte und Hofrat am Hof zu Hannover und Bibliothekar von Braunschweig-Wolfenbüttel Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716), der sich während vieler Jahre seines Lebens immer wieder mit der chinesischen Kultur und den chinesischen Wissenschaften auseinandergesetzt hatte. Besonders der „praktischen Philosophie der Chinesen“, der Morallehre des Konfuzius, brachte er große Bewunderung entgegen.
Diese Bewunderung ging so weit, dass er im Vorwort zu seinem Werk gar anregte, die Chinesen mögen Missionare nach Europa schicken, die den Europäern Unterricht in öffentlicher und privater Moral erteilen sollten.
Durch seinen Briefwechsel mit den Chinamissionaren, besonders mit Joachim Bouvet, und auch durch die Lektüre verschiedener Werke über China, z.B. Couplets „Confucius Sinarum Philosophus“, erschienen in Paris im Jahre 1687, gewann Leibniz aber auch Einblick in die spekulative Gedankenwelt Chinas und in die chinesische Religiosität.
Auf Bitten eines seiner Briefpartner, des Ersten Rats des Herzogs von Orléans, Nicolas-François Rémond, unternahm er es einige Zeit vor seinem Tod, von Oktober 1715 bis April 1716, seine Einsichten und Ansichten zur chinesischen Kosmologie, Naturphilosophie und Religiosität zusammenhängend niederzuschreiben. Dieser Brief, der unvollendet blieb, ist uns unter der Bezeichnung „Discours sur la théologie naturelle des Chinois“ überliefert worden.
China war gleichsam die große kulturelle Entdeckung und Offenbarung des 17. Jahrhunderts, und Leibniz stand mit seiner Begeisterung für dieses große Reich nicht allein da. Man erhoffte sich vieles: Zuwachs an Wissen, neue Technologien, Wirtschaftsbeziehungen.
Diese Hoffnungen und Erwartungen teilte auch Leibniz. Sie waren Teil seiner umfassenden und weitreichenden Vision von einem guten, „vernunftgemäßeren“ Leben nicht nur für seine Landsleute und für China, sondern für den gesamten eurasischen Kontinent:

„Durch eine einzigartige Entscheidung des Schicksals, wie ich glaube, ist es dazu gekommen, daß die höchste Kultur und die höchste technische Zivilisation der Menschheit heute gleichsam gesammelt sind an zwei äußersten Enden unseres Kontinents, in Europa und in Tschina (so nämlich spricht man es aus), das gleichsam wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde ziert. Vielleicht verfolgt die Höchste Vorsehung dabei das Ziel – während die zivilisiertesten (und gleichzeitig am weitesten voneinander entfernten) Völker sich die Arme entgegenstrecken – alles, was sich dazwischen befindet, allmählich zu einem vernunftgemäßeren Leben zu führen.“
Doch was wusste man damals konkret über China? Was war nach Leibniz’ Auffassung „vernünftig“? Und was unternahm er, um seine Vision zu verwirklichen?