Mittwoch, 23. Januar 2013, 18:30–20:00 Vortrag von Prof. Dr. Susanne Schermann: Der Einfluss des Kantō-Erdbebens auf den japanischen Film

Der japanische Film orientierte sich in den ersten Jahrzehnten sehr stark am Theater – er übernahm nicht nur Themen, sondern auch Formen: so wurden zum Beispiel auch die Frauenrollen von Männern dargestellt. Eine weitere Besonderheit ist der benshi genannte Erklärer, der die oft schwer verständlichen Vorgänge auf der Leinwand dem japanischen Publikum näherzubringen suchte.

1917 gab es Reformbestrebungen, die in Anlehnung an westliche Filme eine Moder-nisierung des japanischen Films und zu diesem Zweck unter anderem die Abschaffung der (von Männern gespielten) Frauenrollen und der benshi forderten. Die 1920 gegründete Filmproduktionsgesellschaft Shōchiku versuchte, diese Ideen umzusetzen – allerdings ohne besonderen Erfolg, denn das Publikum schätzte die westlichen Themen dieser Filme nicht.

Das Große Kantō-Erdbeben vom 1. September 1923 forderte mehr als hunderttausend Menschenleben und verwüstete weite Teile Tokyos und Yokohamas. Wie viele andere Studios verlegte auch Shōchiku die Produktion vorübergehend in die Studios in Kyoto. In Tokyo blieben einige junge Mitarbeiter, die zunächst nur den Wiederaufbau leiten sollten. Doch der Interimsleiter Kido Shirō (1894-1977) sah die Chance, seine eigenen Ideen zu verwirklichen – Filme zu machen, die den Alltag normaler Menschen zeigten. Daraus entstand in den folgenden Jahren das Filmgenre gendaigeki, in Abgrenzung zum jidaigeki, deren Themen in der Vergangenheit angesiedelt sind. Die japanische Filmproduktion wurde über Jahrzehnte von diesem Dualismus bestimmt.

Dr. Susanne Schermann, Kunststudium an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien, Studium der Filmwissenschaft an der Waseda-Universität, Tokyo. Doktorarbeit über das Werk des Filmregisseurs Mikio Naruse, publiziert unter dem Titel Naruse Mikio. Nichijō no kirameki (Mikio Naruse. Die Schönheit des Alltags) bei Kinema Junpo (1997, Neuauflage 2005). Seit 1999 Professur an der Meiji-Universität, Tokyo.