Mittwoch, 23. Juni 2021, 18:30–20:00 Dr. Benjamin Bansal: „Das Tokyo der Nachkriegszeit und städtische Wirtschaftsgeschichte: Asiens erste Mega-City und ihr einzigartiger urbaner Raum“

OAG Tokyo Reihe

Wie beeinflusst urbaner Raum wirtschaftliche Prozesse? Betrachtet man das Tokyo der Nachkriegszeit aus der Perspektive eurozentrischer Theorien zur städtischen Entwicklung, so ging die japanische Hauptstadt einen Sonderweg. Diesen Sonderweg, nennen wir ihn das „Tokyo Modell“, soll dieser Vortrag beleuchten.

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1961 Flächennutzungskarte Tokyo
(aus: Tokyo Metropolitan Government, Regional and City Planning for Tokyo: Basic Materials)

Nachbarschaften mit weitreichender Mischnutzung, ein flexibles Flächennutzungsmodell sowie eine intensive Raumnutzung begünstigten kleine und mittelständische Unternehmen im produzierenden Gewerbe. Diese breit im Stadtgebiet repräsentierten Fabriken beschäftigten einen beträchtlichen Teil der Arbeitnehmerschaft. Die Fertigungsprozesse waren vergleichsweise arbeitsintensiv. Die Firmen blieben aber dennoch gegenüber ihren großen und oft außerstädtischen Konkurrenten wettbewerbsfähig, trotz der schnell wachsenden und sich modernisierenden japanischen Volkswirtschaft dieser Periode.
Die 23 Stadtbezirke Tokyos waren außerdem ein sehr egalitärer Raum. Es ereignete sich dort fast keine räumliche Stratifikation, in der Tat wurden die Unterschiede zwischen den Bezirken in der Regel geringer, insbesondere was persönliche Lebensstandards betrifft.

Die Gründe für diese Prozesse waren sowohl organischer als auch institutioneller Natur. Mit der wachsenden Stadt reproduzierten sich bestimmte, fast generische Nachbarschaftseigenschaften, so z.B. eine Reihe kommerzieller Einrichtungen, die den Einwohnern beim Platzsparen halfen und somit die Abwanderung niederer sozialer Schichten verhinderten (Badehäuser, kleine Lebensmittelläden, Restaurants und Bauunternehmen). Des weiteren war das Tokyo Metropolitan Government (TMG) ein sehr einflussreicher Agent bei der Stadtentwicklung, hierarchisch zwischen Zentralregierung und den kleineren Stadtbezirken situiert. Somit konnte eine gut informierte und aktive Umverteilung von den reichen in die strukturschwachen Räume des Stadtgebietes stattfinden. Nichtsdestotrotz hatte das TMG weder die finanziellen noch personellen Ressourcen, um breit angelegte Stadtplanung zu betreiben. Dies ließ Tokyos Wachstum weitestgehend freien Raum, und die Modernisierung konnte in situ in den Nachbarschaften stattfinden, anstatt allein auf dem Reißbrett visionärer Planer.

Luftaufnahme des Metropolitan Expressways von Haneda stadteinwärts, um 1964 herum (Quelle: Archiv des Autors)
Luftaufnahme des Metropolitan Expressways von Haneda stadteinwärts, um 1964 herum (Quelle: Archiv des Autors)

Dieser Vortrag wird mit Daten von den Stadtbezirken Tokyos aus den fünfziger bis in die siebziger Jahre ein Bild eines einzigartigen Urbanisierungsprozesses zeichnen. Als Asiens erste Mega-City besitzt Tokyos Beispiel durchaus Relevanz für heutige schnell wachsende Städte sowohl in Asien als auch anderswo. Ob dieses „Tokyo Modell“ jedoch leicht in einen anderen Kontext transferierbar ist oder nicht, sei dahingestellt. Trotzdem lohnt sich eine geschichtliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen, auch um unser Verständnis vom heutigen, urbanen Japan zu schärfen.

Dr. Benjamin Bansal ist Wirtschaftswissenschaftler mit einem Fokus auf Stadtentwicklung. Seine Dissertation schrieb er 2018 am Tokyoter National Graduate Institute for Policy Studies. In Tokyo unterrichtete er auch den Kurs „Metropolitan Tokyo“ an der Temple University Japan. Er forscht derzeit zu Mega-Cities in Südostasien und lebt in Bangkok.

Sein Blog: https://benbansal.me/

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