Mittwoch, 19. Januar 2022, 18:30–20:00 Beate Wonde: Zum 160. Geburtstag – Mori Ōgai reloaded. „Mori Ōgai als Lehrer für künstlerische Anatomie“

Welche Rolle spielte die Anatomie in den deutsch-japanischen Medizinbeziehungen seit den 1870ern und in Mori Rintarōs (Ōgais) Ausbildung und Umfeld?
Wie verlief die Begegnung des Mediziners mit der europäischen bildenden Kunst während seines Studienaufenthaltes 1884-88 in Deutschland?

Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Japan publizierte Ōgai mit nahezu missionarischem Eifer auf verschiedensten Gebieten. Dadurch konnte sich nicht nur einen Namen als mit deutscher Wissenschaft und Kunst bestens vertrauter Mediziner und Übersetzer, sondern auch einen geachteten Ruf als Koryphäe für deutsche Ästhetik und Kunst erwerben. Über persönliche Beziehungen zum damaligen Rektor Okakura Tenshin erhielt er 1891 einen Lehrauftrag an der Tokyoter Kunstschule und war damit der erste Dozent für plastische Anatomie, quasi der Begründer dieses Faches in Japan. Unter Rückgriff auf vornehmlich deutsche Standardwerke erschienen in der Folge eine Reihe von Publikationen sowie die ersten japanischen Lehrbücher zur Anatomie für Künstler. Auch hier war die wissenschaftlich-künstlerische Vermittlung zunächst eng mit sprachschöpferischen Innovationen verbunden.

Für Ōgai war das Thema „künstlerische (plastische) Anatomie“ mehr als ein Ausbildungsfach an der Kunstschule. In seiner Erzählung „Hanako“ von 1910 thematisiert er die Begegnung Auguste Rodins – des Künstlers, der „unter die Oberfläche schauen kann“ – mit der japanischen Tänzerin, seinem späteren gleichnamigen Modell Hanako, deren gedrungener Körperbau sich durch eine bodenständige Schönheit auszeichnete. Ōgai gelingt es hier, „eine pointierte Beschreibung der subtilen Interferenzen zwischen der inneren und der äußeren Natur des menschlichen Wesens“ zu geben und behauptet mit Rodins Worten die Ebenbürtigkeit und ganz eigene Schönheit asiatischer Körper. „Hanako“ ist ein Kleinod, in dem der Literat künstlerische, philosophische, ästhetische und künstleranatomische Fragen zu einem komprimierten Gesamtwerk verwebt.

Beate Wonde war Kuratorin der gleichnamigen Ausstellung 2014.
Ihre langjährige Beschäftigung mit den Themen Ōgai und Kunst/ Theater/ Literatur bzw. deutsch-japanische Medizingeschichte führt unweigerlich zu einer ganz eigenen Sicht auf die Aktivitäten und auf das Beziehungsgeflecht, in dem Ōgai sich historisch und biografisch bewegte. Anders als in der fachspezifischen Forschung, liegt der Fokus auf überraschenden interdisziplinären und personellen Interaktionen. Ihr Ziel ist es, – eingedenk der vielen offenen Fragen – aufzuzeigen, wie Wissenschaft und Kunst sich bei Ōgai, aber auch bei Louis Pasteur oder Hans Virchow u.a. Zeitgenossen nicht nur ergänzten, sondern aus demselben kreativen Quell stammten, sich gegenseitig bedingten.

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