Mittwoch, 30. Juni 2010, 18:30–20:00 Kenichi Mishima: „Aufruf zur Beendigung eines mentalen Streiks – Kurze Einführung in die großartigste Sportart“

Photo Event

Bekanntlich erstreckt sich die deutsche Japan-Forschung auf das Fächer- und Disziplinen-spektrum der ganzen philosophischen Fakultät: Archäologie, Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft, Mythenforschung, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft usw., seit den 70er Jahren auch auf Fächer der Sozialwissenschaften wie Politikanalyse, Nationalökonomie, Rechtswissenschaft, in der letzten Zeit sogar auf Mentalitätsforschung, nämlich die Glücksvorstellungen der Japaner. Wir kennen auch viele Arbeiten über die klassischen Kampfsportarten. Angefangen mit der Kunst des Bogenschießens haben Karate, Aikido und Judō ihre dichte wissenschaftliche Beschreibung gefunden. Aber die deutsche Japanforschung mit ihrer ehrwürdigen Geschichte, ihrer aktuellen Effizienz und ihrem zuletzt anglophon orientierten Ehrgeiz hält immer noch vor einem ganz wichtigen sozialen Phänomen ihre Augen verschlossen: dem Baseball. Früher konnte man mit der Übersetzung eines Shintō-Gebets (Norito) Karriere machen, später mit einer hermeneutischen Arbeit über ein Literaturprodukt promovieren, das sogar einem überdurchschnittlich gebildeten Japaner unbekannt war. Und auch heute kann man mit einer demographischen Analyse der Altersvorsorge in Japan sogar auf einen Lehrstuhl hochklettern, vorausgesetzt, die Arbeit ist auf englisch geschrieben. Aber mit dem Thema Baseball konnte und kann man weder Staat noch Karriere machen.

Die Gründe sind ersichtlich: Erstens ist Baseball zu modern und zu amerikanisch. Amerika ist ja kein Gegenstand der Japanforschung. Zweitens sind die Spielregeln des Baseball für deutsche Wissenschaftler allzu kompliziert, allzu schleierhaft, befinden sich jedenfalls außerhalb der intellektuellen Erreichbarkeiten der in Deutschland in einer langen Tradition seit Schleiermacher sehr differenziert und hochentwickelten Kunst des Fremdverstehens, genannt Hermeneutik. Dabei ist Baseball für das Verständnis des modernen Japan ein sehr wichtiger Schlüssel.
Wer meinen Thesen nicht glauben will, sollte sein japanologisches Wissen erneuern: Einer der ersten leidenschaftlichen Baseball-Spieler der frühen Meiji-Zeit, Masaoka Shiki, ist zugleich großer Erneuer der Haiku-Dichtung.

Mein Vortrag, der rechthaberisch und arrogant genug als Korrekturvorschlag zu den Strukturfehlern der deutschsprachigen Japanforschung gedacht ist, wird zunächst kurz die Geschichte des Baseball in Japan evozieren. Heute hat Baseball gegen die Invasion des vergleichsweise banausischen Fußball allerdings einen schweren Stand. In einem zweiten Schritt versuche ich daher für alle Baseball-Analphabeten kurz Aufklärungsarbeit hinsichtlich der Grundspielregeln zu leisten. Vermutlich vergeblich – über pädagogische Erfolgsquoten mache ich mir nach einer langen akademischen Tätigkeit ohnehin keine Illusionen mehr. Am Ende möchte ich anhand von einer Video- bzw. DVD-Vorführung ein bisschen Einblick in und Zugang zu jener Welt vermitteln, an deren Pforten der Wille zum Verständnis bei den meisten Kontinentaleuropäern immer schon gestreikt hat. In puncto Leidenschaft und Begeisterung, Lautstärke und Emotion, Stupidität und Rechthaberei stehen die japanischen Baseballfans ihren Fußballfreunden in Italien oder Deutschland aber keineswegs nach.
Die Abendveranstaltung erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch: Sachverstand, Fair play und Witz sollen die Einführung in die großartigste Sportart für alle zu einer therapeutischen Unterhaltung werden lassen.

Prof. Mishima Kenichi, Jahrgang 1942, studierte an der Universität Tokyo Philosophie, komparative Literatur- und Kulturwissenschaft und Germanistik. Seine akademischen Stationen sind: Universität Chiba, Todai, Gakushuin, Handai (Ōsaka) und die Tokyo Keizai Universität, wo er wegen des schlechten Rentensystems in Japan noch arbeiten muss und auch gerne arbeitet. Zwar gehört Baseball nicht in seinen akademisch genehmigten Kompetenzbereich. Er glaubt aber, daß er sich in der Baseball-Geschichte der inzwischen untergegangenen Shōwa-Zeit besser auskennt als in den Schriften von Kant, Nietzsche, Benjamin, Adorno und Habermas, über die er einiges publiziert hat.

Beachten Sie hierzu auch die Exkursion zum Vortrag.