Mittwoch, 2. November 2011, 18:30–20:30 Die Rolle der Philosophie in den Gesellschaften Japans und Deutschlands sowie der deutschsprachigen Länder

Zunächst soll die Rolle der Philosophie in der Gesellschaft Japans geklärt werden, und zwar am Beispiel der Rolle, die Toshio Kuwako, Prof. der Philosophie an der Tokyo Kōgyō Daigaku (Tokyo Institute of Technology) als Moderator und Koordinator in mehreren Kommissionen für die Planung von Bauvorhaben und die Lösung der bei der Bauausführung entstehenden Umweltprobleme gespielt hat.

Hervorgehoben wird dabei der Unterschied zwischen der Konsensbildung in Japan, die mit emotionalen Unterdrückungen und Frustrationen, manchmal mit Geduld (我慢) und Resignation (「仕方がない」という断念) gleich gesetzt werden und der bis auf den letzten Pfennig berechneten, schriftlich festgelegten Kompromisslösung in Deutschland. Geduld und Verzicht bei Naturkatastrophen wie Erdbeben, Tsunami etc., die weltweit bestaunt und gelobt wurden, haben Japaner über Generationen eingeübt. Auf von Japanern selbst verursachte Katastrophen wie den AKW-Störfall in Fukushima, den Krieg als ultimative Umweltzerstörung oder ungerechte, menschlichen Werten widersprechende Sozialisierung und Institutionalisierung sollten und dürfen Geduld und Resig-nation keine Anwendung finden. Der Umgang mit den von Menschen verur-sachten Katastrophen ist für Japaner eine Aufgabe, die sich durch die Schulung der Philosophie einüben lässt. Nämlich dadurch, dass die vorsprachlichen und über-sprachlichen Erlebnisse mit eigenen Sinnesempfindungen und Gefühlen zu klarem sprachlichen und schriftlichen Ausdruck gebracht werden.

Zahlreich sind die bis heute andauernden philosophischen Bemühungen in Japan zur Versprachlichung vor- und übersprachlicher Erfahrung: „Reine Erfahrung“ (純粋経験) bei Nishida Kitarō, die (anders als die Erkenntnistheorie der modernen westlichen Philosophie bei Descartes, Kant, u.a.) vor der Spaltung in Subjekt und Objekt unmittelbar empfunden wird und reflektiert werden kann und mit dem Begriff „Dasein“ und „In-der-Welt-sein“ (Heidegger) verglichen wurde; „das Zwischen der Beziehungen (間柄)“ bei WaTsuji Tetsurō, dessen überbetonter Einfühlungscharakter durch den Begriff „Du-Du-Beziehung“ (二人称性) bei Mori Arimasa mit einem Mangel bzw. einer Schwäche des Ich-Es-Verhältnisses, d.h. des Aspekts der dritten Person (三人称) aufschlussreich dargestellt wurde.

Die Tragweite einer solchen philosophischen Betrachtungsweise wurde immer wieder durch die philosophischerseits geforderte methodische Strenge, interdisziplinäre Forschung ermöglichen zu können, überprüft. Die philosophische Betrachtung verfügt nicht nur über die Bereitschaft, Forschungsergebnisse aller Disziplinen positiv aufzunehmen – z.B. die Theorie japanischer Kultur (日本文化論), die politologischen Arbeiten von Maruya Masao,「タコツボ文化論 (Modell der „Takotsubo“-Kultur)」, die soziologische Forschung von Nakane Chie, „Die vertikale Gesellschaft“ 「タテ社会の構造」, die psychologische Forschung von Doi Takeo „Die Struktur von Amae“ (Freiheit in Geborgenheit)「甘えの構造」usw.), sondern auch über die methodische Stärke, Forschungsergebnisse der Naturwissenschaften einschließllich der neurologischen Forschungen von B. Libet, G. Rizzolatti, F. Varela u.a. zu integrieren. Wer, wenn nicht ein Philosoph, vermag Komitees über Umweltethik, Energiepolitik u.a. zu leiten, wo bis zum letzten Grunde des Menschseins geduldig ausdiskutiert werden kann? Feststeht, dass Sensationsberichte und Stimmungsmacherei als journalistische Verkaufstaktik gegenüber großen deutschen und japanischen Zeitungen, die politische Vertretung rein wirtschaftlicher Interessen der Industrie oder das Datensammeln naturwissenschaftlicher Forschung ohne oder auch mit Interesse an sozialen Werten, einer Diskussionsleitung nicht fähig sind.

Also gilt es bei diesem Gespräch gezielt zu erhellen, wie weit ein Versuch einer interkulturellen Philosophie einen überzeugenden Hinweis auf die Gesamt-orientierung der japanischen und deutschen Gesellschaft erreichen kann.

Gesprächspartner
Prof. Dr. Georg Stenger, Professur für Philosophie in einer globalen Welt an der Fakultät für Philosophie an der Universität Wien, Präsident der Gesellschaft der interkulturellen Philosophie (GIP). Publikationen: Ohne Warum. Versuch einer Phänomenologie des Ungrundes im Anschluss an den „Cherubinischen Wandersmann“ von Angelus Silesius, Essen 1990, /M. Rörig (Hg.) Philosophie der Struktur – „Fahrzeug“ der Zukunft? Für Heinrich Rombach, Freiburg/München 1995, Philosophie der Interkulturalität, Erfahrung und Welten; Eine phänomenologische Studie, Freiburg/München 2006 u.a.
Prof. Dr. Ichiro Yamaguchi, Professur für Philosophie an der literatur-wissenschaftlichen Fakultät der Tōyō-Universität, Vizepräsident der Gesell-schaft der Interkulturellen Philosophie (GIP). Publikationen: Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Edmund Husserl, Den Haag 1982; Ki als leibhaftige Vernunft. Beitrag zur interkulturellen Phänomenologie der Leiblichkeit, München 1997, 『存在から生成へ(Vom Sein zum Werden)』, Tokyo 2005, 『人を生かす倫理(Ethik aus der Lebenswelt. Vom Aspekt der genetischen Phänomenologie Husserls)』Tokyo 2008 u.a.